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Bolivien und die Pandemie - ein aktueller Bericht.

 Liebe Freunde und Unterstützer der Bolivienhilfe,

die Pandemie macht auch vor Lateinamerika nicht halt. Deshalb nachfolgend in Auszügen ein Bericht der Fundación Pueblo in Bolivien. Autor Günter Schulz ist der Gründer der Stiftung und ein Freund von Hans Pollinger. Sein Bericht gibt ein gutes Gesamtbild der aktuellen Situation wieder.

Bericht aus Bolivien in Zeiten der Pandemie

25. April 2020

Liebe Freunde Boliviens:

Die 6. Woche Landleben in den Yungas von La Paz. Samstagabend, ich sitze auf der Terrasse und versuche, dem unendlichen langsamen Internet hier die aktuellen Nachrichtenzu entlocken. Dabei freut es mich zu sehen, dass die Entwicklung der Pandemie in Europa nach dem zunächst erschreckenden, exponentiellen Anstieg der Infektions- und Todesfälle sich nun zumindest abzuflachen scheint und die „Aufrüstung“ der Gesundheitssysteme spürbare Wirkungen zeigt, so dass einige der Beschränkungen des sozialen Lebens wieder gelockert werden konnten. Ich bin optimistisch, dass die Menschen in Europa und ihre Regierungen – bei allen Unterschiedlichkeiten von Land zu Land – in den kommenden Wochen und Monaten den schmalen Grad zwischen zu vielen und zu wenigen freiheitsbeschneidenden Einschränkungen zugunsten des Gesundheitsschutzes finden und gehen werden. Wirtschaftlich führen die Pandemie bzw. die Maßnahmen zu deren Verlangsamung auch in Europa bereits jetzt zu merklichen Wohlstandsverlusten, die vielleicht erst langsam wieder aufzuholen sein werden. Angesichts der im Weltmassstab starken Institutionen und Strukturen in Europa teile ich jedoch die Hoffnung, dass diese Verluste nicht katastrophal und von vorübergehender Natur sein werden.

Bolivien steht erst am Anfang der Auswirkungen der Pandemie und ist eines der Länder weltweit, das am schlechtesten auf deren gesundheitliche, wirtschaftliche und soziale Konsequenzen vorbereitet ist. Das Gesundheitsministerium meldete die ersten beiden Infektionsfälle hier am 10.März, zwei aus Italien Heimgereiste. 6 Wochen später gibt es offiziellen Angaben zufolge knapp über 800 Infizierte, 44 Menschen seien bis zum 24.April an oder mit COVID19 verstorben. Das erscheint für ein Land mit mehr Einwohnern als die Schweiz nicht viel. Wie viele der 11 Millionen Bolivianer das Virus tatsächlich mit sich herumtragen, ist allerdings aus verschiedenen Gründen höchst unklar. Zum einen werden nur verschwindend wenige Tests durchgeführt – bis Mitte April weniger als 4.000 im ganzen Land. Es gäbe keine Reagenzien für die Tests, sagt der Gesundheitsminister, und nur drei Labore können in dem Land, dessen Fläche dreimal so groß Land wie Deutschland ist, überhaupt Proben analysieren. Hinzu kommen die teilweise haarsträubenden Berichte von total verspäteter und schlechter Behandlung, die „offizielle“ COVID19-Patienten in den mangelhaft gerüsteten Gesundheitszentren erfahren, und deren soziale Ausgrenzung in ihren Nachbarschaften – starke Anreize, sich erst gar nicht auf den Virus untersuchen zu lassen und einen Todesfall in der Nachbarschaft auf andere Gründe zurückzuführen. Dass die täglich vom Gesundheitsministerium aktualisierten Zahlen in den letzten Tagen dennoch sprungartig gestiegen sind (am 24.April sollen 100 Fälle zu den bis dahin 700 genommen sein), ist vor diesem Hintergrund nicht gerade beruhigend.

Reaktionen der Regierung auf die ersten Fälle erfolgten früh. Bereits 2 Tage nach der „Ankunft“ des Virus wurden der internationale Reiseverkehr stark eingeschränkt, alle Schulen geschlossen und Großveranstaltungen verboten. Diese Maßnahmen wurden schon bald und in einem Maß, das die Beschränkungen in den meisten Ländern der Welt in den Schatten stellt, verschärft. So gilt seit dem 25.März ein „sanitärer Ausnahmezustand“ in Bolivien, der allen Bürgern das Verlassen des Hauses bis auf einen einzigen Vormittag in der Woche untersagt, den unter 18- und über 65-Jährigen gänzlich. Nicht nur der Fernverkehr, sondern auch der öffentliche und private Nahverkehr wurde bis auf individuelle Ausnahmegenehmigungen für Nahrungsmittel- und Gesundheitstransporte gänzlich untersagt. Verstöße werden dort, wo die Polizei präsent ist, mit drakonischen Geld- und Freiheitsstrafen hundertfach geahndet. In vielen ländlichen Gebieten und den Armutsvierteln der Grosstädte, wo neben anderen staatlichen Dienstleistungen auch die der Polizei weniger präsent ist, ist der Umgang mit den drakonischen Einschränkungen oft laxer, was die Regierung wieder und wieder für die voranschreitende Ausbreitung des Virus verantwortlich macht. Wie (bzw. ob) der Ausbau der Kapazitäten des Gesundheitssystems derweil voranschreitet, ist schwieriger in Erfahrung zu bringen. Verwendung und Verbleib der diversen Hilfssendungen, über die in den Nachrichten berichtet wird, ist ebenfalls weitgehend unklar. Klar ist, dass es an allen Stellen immer noch am Nötigsten hapert: Selbst das medizinische Personal der offiziell designierten Referenzkrankenhäuser für COVID-19 klagt über Mangel an essentieller Schutzausrüstung und Desinfektionsmitteln. Ob die erschreckend geringe Zahl der Intensivbetten und Beatmungsgeräte im Lande mittlerweile erhöht werden konnte, ist mir unbekannt.

Die seit dem 25.März geltenden drakonischen Ausgangs- und Verkehrbeschränkungen in Bolivien haben die Wirtschaft weitestgehend zum Erliegen gebracht. In einem Land, in dem 2/3 der Bevölkerung ihr Einkommen im „informellen Sektor“ (d.h. ohne eine Anstellung mit festem Gehalt) zu erwirtschaften  bemüht ist, sind die sozialen Auswirkungen fatal. Die Baustellen, auf denen tausende „freie“ Handwerker und Hilfsarbeiter ihren Tagelohn verdienten, liegen brach; die - meist weiblichen – Straßenhändler, die ihre Familie mit dem ambulanten Verkauf von Kleinigkeiten durchzubringen versuchen, sitzen nun alle arbeitslos daheim. Ein Netz sozialer Sicherheit, das einen derartigen Namen verdienen würde, gibt esin Bolivien über den Familienverbund hinaus praktisch nicht. Die wenigen Produktionsbetriebe im Lande wurden von der Regierung verpflichtet, auch ohne Produktion und Verkäufe die Löhne weiter zu zahlen. Dafür sollen sie zinsverbilligte Regierungskredite erhalten. Ob bzw. wie viele Beriebe das eine und das andere können und tun, ist ungewiss.

Für den Grossteil der Bevölkerung, der nicht zu den privilegierten Gehaltsempfängern gehört, hat die amtierende Interimsregierung eine Reihe von Bonuszahlungen eingeführt, für die sich Bolivien u.a. beim Weltwährungsfonds verschuldet hat. Auch wenn es umgerechnet kaum 50 Euro sind, die der Staat diesen Monat den Eltern eines schulpflichtigen Kindes zahlt, bilden sich mehrere Häuserblocks lange Schlangen Empfangsberechtigter vor den wenigen Bankfilialen, die noch geöffnet haben. Ob bzw. wie lange die Bonuszahlungen angesichts des bereits vor der Krise astronomischen Haushaltsdefizits über diesen Monat hinaus weiter geführt werden können, ist ungewiss. Die außenwirtschaftliche Lage Bolivien verschlimmert sich derweil mit jedem Tag, den die Erölpreise auf den derzeitigen historischen Tiefstständen bleiben. Sie bestimmen die Einnahmen aus dem Export von Erdgas nach Brasilien und Argentinien, die ein Drittel des bolivianischen Steueraufkommens ausmachen.

Zu den wirtschaftlichen Nöten der Bevölkerung kommen die psychosozialen. Die Angst vor der Infektion geht in allen Bevölkerungsschichten um und wird gerade bei den ärmeren Gruppen von dem allgemein schlechten Bildungsstand und zum Teil haarsträubenden aber auch in den Vororten und auf dem Lande viel Beachtung und Wertschätzung findenden Fake News in den „sozialen Medien“ zusätzlich geschürt. Eine Beschäftigung der Schulkinder auf dem Weg des virtuellen Unterrichts, der in Europa derzeit zur Regel wird, findet in Bolivien nur in den seltenen Ausnahmefällen statt, in denen engagierte Lehrer und mit Internet und Smartphones ausgerüstete Schüler zusammen kommen. Das Zusammenwohnen auf engstem Raum ohne die Möglichkeit, bei Bedarf zumindest einmal auf die Strasse entfliehen zu können, verstärkt die in den letzten Jahren alarmierend gestiegene Tendenz häuslicher Gewalt - vor allem in den Vorstädten der Armen.

Die Corona-Krise trifft Bolivien ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, zu dem die tiefgreifende politische Krise vom Oktober/November letzten Jahres noch nicht verarbeitet, geschweige denn gelöst ist. Die amtierende Regierung ist aus den Unruhen nach den Nationalwahlen vom 20.Oktober hervorgegangen, deren Ergebnisse nach schwerwiegenden Wahlbetrugsvorwürfen vom Parlament annulliert wurden. Das Mandat der Interimspräsidentin war ursprünglich auf die Vorbereitung der für den 3.Mai terminierten Neuwahlen begrenzt. Entgegen wiederholten gegenteiligen Beteuerungen hatte die Interimspräsidentin, deren Partei nur einen sehr geringen Stimmanteil an den Urnen bekommen hatte, von Kurzem ihre Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen angemeldet.

Das ist nicht nur bei dem nach wie vor von der Partei ihres Amtsvorgängers Evo Morales dominierten Parlament auf wenig Beifall gestoßen. Im Zuge des Corona-Notstandes ist der Wahltermin auf einen bisher noch nicht festgelegten Termin im 2.Halbjahr 2020 verschoben worden. So wird Bolivien mitten in einer der größten Gesundheitskrisen des Landes von einer Regierung geführt, die keine parlamentarische Mehrheit hinter sich hat und sich ebenso wie die diversen Oppositionsparteien bereits – wenn auch inoffiziell - im Wahlkampf befindet. So verwundert es nicht, dass Rufe nach Bildung einer „Regierung der nationalen Einheit“ zur gemeinsamen Bewältigung des COVID-Notstandes bislang ungehört blieben. Entsprechend schwach ist das Vertrauen in die von der Interimsregierung verbreiteten Informationen und getroffenen Maßnahmen.

Die gegenwärtigen Restriktionen im Rahmen des „sanitären Notstandes“ wurden erst einmalbis zum 30.April verhängt. Von Seiten der Regierung und verschiedenen Gesellschaftsgruppen weisen die Signale aktuell in Richtung einer – eventuell regional differenzierten – zeitlichen Ausweitung der Restriktionen, die sich – ähnlich wie in einigen Nachbarländern – zumindest bis Mitte, eventuell Ende Mai hinziehen könnten. Dies ist umso wahrscheinlicher, als in Bolivien die offiziellen Infektionszahlen erst in den letzten Tagen ein stärkeres Wachstum aufweisen. Ob das Land diese Maßnahmen wirtschaftlich, sozial und politisch verkraften kann?

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